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Bericht
Autor
Leonie

„Ukraine-Krieg: Friedensbewegung im Realitätsschock? Chancen für eine gewaltfreie Konfliktlösung“

Zusammenfassung

Die Friedensbewegung demonstriert seit Jahrzehnten für Abrüstung und friedliche, gewaltfreie Konfliktlösung. Ist das idealistischer Quatsch? Gibt es Alternativen zum bewaffneten Widerstand, auch jetzt im Angesicht der Kämpfe in der Ukraine?

Haupt-Inhaltsfeld

Beim 4netzen am 4. April 2022 wurden zum Thema „Ukraine-Krieg: Friedensbewegung im Realitätsschock? Chancen für eine gewaltfreie Konfliktlösung“ folgende Vorträge gehalten:

  • Ukraine-Hilfe in Freiburg, Antje Reinhard, Amt für Migration und Integration der Stadt Freiburg (AMI)
  • Ein Projekt in der Ukraine, Gaëlle Dietrich, AMICA e.V.
  • Chancen für eine gewaltfreie Konfliktlösung: Ziviler gewaltfreier Widerstand ist nach wie vor die Lösung! Dietrich Becker-Hinrichs, Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden

Zwei der Vorträge wurden aufgezeichnet. Wir fassen sie hier in einem Kurzbericht inhaltlich zusammen und stellen sie dir als Audio zum Nachhören zur Verfügung. Hör rein, es lohnt sich!

Hast du Anregungen, interessante Artikel oder Fragen zum Thema, die du gerne teilen magst? Sende sie an info [at] stadtwandler.org (info[at]stadtwandler[dot]org) .

Hinweis: Der folgende Text enthält eine Kurzzusammenfassung der Vortragenden, bei wir einzelne Inhalte des Gesagten zugunsten der Prägnanz weggelassen haben. Wir bitten um Hinweise, falls es dadurch zu Fehlinterpretationen kommt. Die dargestellten Meinungen müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen außer sie sind als solche gekennzeichnet.

 

Ein Projekt in der Ukraine, Gaëlle Dietrich, AMICA e.V.

Amica e.V. ist eine Frauenrechtsorganisation zur Unterstützung von Frauen und Mädchen in Krisengebieten. Projekte gibt es in Bosnien Herzegowina, Libanon, Libyen, Syrien und seit 2017 auch in der Ukraine.

 

Psychosoziale und wirtschaftliches Empowerment für Frauen und Mädchen im Krisengebiet

In der Ukraine sei eigentlich schon seit 8 Jahren Krieg, so Dietrich. Die Partnerorganisation hatte bis vor kurzem ihren Sitz in Mariupol und war von dort aus beratend tätig. Sie ist regelmäßig in die Pufferzone ins Krisengebiet gefahren (das ostukrainische Gebiet, in dem pro russische Seperatist*innen und ukrainische Regierungstruppen kämpften). Dort war die Organisation fast täglich mit Phsychologi*innen, Sozialarbeiter*innen, Ärzt*innen und Jurist*innen tätig und bot damit eine ganzheitliche Unterstützung für Frauen und Mädchen vor Ort. Die Frauen dort hätten einen schweren Alltag, die häusliche Gewalt steige dort an, viele seien traumatisiert. Neben psychosozialer Hilfe unterstützt die Organisation die Frauen, Einkommen zu generieren, indem sie Weiterbildungsmöglichkeiten anbietet.

 

Menschen in Sicherheit bringen und langfristige Unterstützung sicher stellen

Durch die Eskalation des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine hätte sich vieles geändert, so Dietrich. Das Hilfs-Team musste Mariupol verlassen. Trotzdem hilft Amica dort weiter: Seit dem russischen Angriff ist die erste Priorität, die Menschen in Sicherheit zu bringen. Es wurden Busse organisiert, um die Frauen aus den Krisengebieten herauszuholen und an sicherere Orte in der Ukraine oder nach Polen zu bringen. Amica vermittelt Unterkünfte, verteilt Lebensmittel und Medikamente und unterstützt Frauen psychologisch. Die Frauen dort seien mehrfach traumatisiert, weil sie Angehörige verloren oder sexualisierte Kriegsgewalt erlebt haben. Für Amica bedeutet das, dass die Frauen langfristige Unterstützung benötigen.

 

Das Team von Amica plant derzeit, wie es das Projekt unter den neuen Bedingungen weiterführen kann. Die Organisation schult Soldaten, die die Evakuierungen durchführen, für einen traumasensiblen Umgang mit den Frauen im Krisengebiet. Zudem plant Amica ein Bündnis zur Umsetzung der Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) und der UN-Resolution zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen. Gaëlle Dietrich meint, es sei jetzt sehr wichtig langfristig am Ball zu bleiben, auch wenn die mediale Aufmerksamkeit später wieder abnimmt. Wichtig und effizient sei weiter eine starke Zivilgesellschaft, die eine schnelle und unbürokratische Hilfe bietet.

 

Den gesamten Vortrag als Audio hören:

Audiodatei

 

 

-> Mehr Infos zum Amica Projekt in der Ukraine

 

 

Ziviler gewaltfreier Widerstand ist nach wie vor die Lösung! Dietrich Becker-Hinrichs, Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden

Dietrich Becker-Hinrichs ist Vorsitzender des Trägervereins der Werkstatt für gewaltfreie Aktion Baden. Er befasst sich seit vielen Jahren mit gewaltfreiem Widerstand. Er ist als Pfarrer in der Nähe von Karlsruhe tätig.

 

Was ist gewaltfreier / sozialer Widerstand?

Becker-Hinrichs ist überzeugt, dass wir lernen müssen, Konflikte anders zu lösen als durch Krieg. Diese Position fände auch Zuspruch in der ukrainischen Bevölkerung, so würde laut einer Umfrage aus dem Jahr 2015 des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie, gewaltfreier Widerstand gegenüber bewaffnetem Widerstand von Menschen in der Ukraine präferiert.

Bei Widerstand gehe es nicht darum, eine Fläche zu verteidigen, sondern die eigene Kultur, Werte und Demokratie. Die wichtigste Voraussetzung für gewaltfreien Widerstand sei massenhafte Verweigerung / Nichtzusammenarbeit mit dem Aggressor von Seiten der Verwaltung, Polizei, Wissenschaft, Kunst, Bildungseinrichtungen, Gewerkschaften, Medien etc. Beim gewaltfreien / sozialen Widerstand könne sich die gesamte Bevölkerung beteiligen.

 

Beispiele aus der Ukraine

Becker-Hinrichs führt Beispiele gewaltfreien Widerstandes im Ukraine-Krieg auf: Um die russische Armee zu verwirren, wurden dort Verkehrsschilder umgewidmet, sodass alle Schilder nach Den Haag (Sitz des internationalen Gerichtshof) zeigen. Belarussische Eisenbahner haben Eisenbahnlinien blockiert und so die russischen Nachschublinien unterbrochen.

Der eigentliche Widerstand erreicht laut Becker-Hinrichs dann seinen Höhepunkt, wenn das betroffene Land durch den Gegner besetzt wurde und dieser versucht das Land zu regieren. Viele politische Kommentatoren seien der Meinung, dass selbst dann, wenn Putin die Ukraine besetzen würde, könne er das Land nicht regieren, wenn die ukrainische Bevölkerung nicht zur Zusammenarbeit bereit sei.

Massenhafte Verweigerung der Anweisungen seien bereits beobachtbar in ukrainischen Gebieten, wo Bürgermeister und Verwaltung die Kooperation verweigern, Menschen auf Straße gehen, ukrainische Flaggen schwenken und die Nationalhymne singen.

 

Erfolgsgeschichten gewaltfreien Widerstands

Wichtig sei die Verteidigung der unabhängigen Medien, von Fernsehen, Rundfunk und Internet. Ein Beispiel dafür ist die singende Revolution Ende der 80er Jahre, als Estland, Lettland und Litauen für ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion kämpften. Russische Soldaten sollten damals das Parlament einnehmen und den Fernsehturm von Vilnius erobern. Vor dem Fernsehturm bildeten mehrere tausend Menschen eine Mauer. Die russischen Soldaten diskutierten mit den protestierenden Zivilist*innen. Manche Soldaten schossen. Dabei kamen 14 Menschen ums Leben. Am Ende siegte der gewaltfreie Widerstand. Heute zählt sozialer Widerstand in den baltischen Staaten als eine Form der Verteidigung neben militärischer Verteidigung. Sozialer Widerstand sei eine sehr riskante Form der Verteidigung, die viel Mut erfordere, schlussfolgert Becker-Hinrichs. Erfolgreiche Beispiele zeigen jedoch, dass die Verluste bei sozialem Widerstand geringer sind als bei bewaffnetem, selbst wenn der bewaffnete Krieg erfolgreich ist.

Dietrich Becker-Hinrichs schließt seinen Vortrag ab mit einem Zitat des ukrainischen Pazifisten Yurii Sheliazhenko:

„Die meisten Menschen schlingern intuitiv zwischen einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit einerseits und einer Kultur des Krieges und der Gewalt andererseits hin und her. Pazifisten sollten den guten Weg zeigen. Gewaltlosigkeit ist ein viel effektiveres und fortschrittlicheres Instrument für globale Governance, soziale und ökologische Gerechtigkeit, als die Wahnvorstellungen über systemische Gewalt und Krieg als Allheilmittel, als wundersame Lösung für alle sozioökonomischen Probleme.“

 

Den gesamten Vortrag als Audio hören:

Audiodatei

 

 

-> Erklärung der Werkstatt für gewaltfreie Aktion Baden zum Ukraine-Krieg

 

Weiterführende Informationen

 

 

 

[Letzte Änderungen:]

  • 03.05.22: Der Vortrag "Was sagt die ukrainische Zivilgesellschaft?" von Oksana Vyhovska, Deutsch-Ukrainische Gesellschaft e.V. Freiburg, wurde aus der Vortrags-Liste entfernt, denn er ist aufgrund von Krankheit an diesem Tag ausgefallen.
  • 07.06.22: Beim Blutsonntag von Vilnius kamen nicht 40, sondern vierzehn Menschen ums Leben.

 

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Foto: Artem Podrez from Pexels

Zuletzt geändert
06.12.23, 23:57